Von der Ars Antiqua zur Ars Nova

Gedanken über sogenannte „branding news“...

Vor rund zwei Wochen hatte ich die Gelegenheit, vor einem sehr interessierten und engagierten Kreis von Zuhörern über das Thema „Musik des Mittelalters“ aus musik- und kulturhistorischer Perspektive zu sprechen. So unternahm ich mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Kurses eine musikalische Zeitreise zu Musik- und Kulturzentren, welche die Zeit der ausgehenden Spätantike ab dem fünften Jahrhundert n. Chr. bis hin zur Renaissance und des aufkeimenden Humanismus im Europa des 15. Jahrhunderts sowie der Frühen Neuzeit im 16. Jahrhundert prägten. Als eine wesentliche architektonische Manifestation gilt dabei vor allem die mit den beiden in der Überschrift verbundene Kathedral- und Bischofskirche Notre Dame de Paris, die beispielhaft in sowohl in bau- als auch in kunsthistorischer Hinsicht gilt. Vor rund 19 Jahren, zu Anfang Mai des Millieniumsjahrs 2000 habe ich die bislang einmalige Gelegenheit gehabt, diesen in jeder Hinsicht beeindruckenden Sakralbau intensiv besichtigen zu können. Und abgesehen von der derzeitigen Tagesaktualität, wo eben jene Pariser Kirche Notre Dame wieder sozusagen in aller Munde und auch medial omnipräsent zu sein scheint, so möchte ich im Folgenden einige Gedanken formulieren, die im humanistischen Sinne verstanden werden sollen.

Von der Ars Antiqua zur Ars Nova – eine musikalische Zeitenwende

Kulturaustausch ist ohne Handelsbeziehungen und – das belegen historische Quellen gar zu oft – bedauerlicherweise auch scheinbar ohne vordergründige Konflikte, wie etwa kriegerische bzw. militärische Auseinandersetzungen mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten, in der Zeit des Mittelalters undenkbar. Es darf dabei keineswegs unerwähnt bleiben, dass der uns heute vorliegende kulturelle Reichtum Europas und eine ebensolche Vielfalt zahlreichen konfliktträchtigen sozialen, ökonomischen, religiösen und mitunter immer auch kulturellen Verwerfungsprozessen unterliegt. Allerdings wäre es entschieden zu einfach aus vordergründiger architektonischer Symbolik eines christlichen Sakralbaus quasi ein werteverbindendes und umspannendes Nonplusultra mit globaler Wirkmächtigkeit zu erzwingen. Wenn wir das Mittelalter in Europa als eine Epoche ständiger Wandlungsprozesse und Umwälzungen, aber ebenso auch technologisch bedeutsamer Errungenschaften, wie der Ausprägung und Differenzierung von Schriftzeichen in der Musik betrachten, so ergibt sich ein komplexes und derart vielschichtiges Bild einer Zeit, die nicht in wenigen Worten geschildert, geschweige denn zu charakterisieren ist. Waren in der ausgehenden Spätantike also vor allem die Regionen des gesamten Mittelmeerraumes und des sogenannten Nahen Ostens eine Wiege technischer Innovationen und wirtschaftlicher Prosperität, so profitierten in der Folgezeit insbesondere süd- und gleichfalls einige mitteleuropäische Regionen von intensiven Handels- und Austauschbeziehungen, die allenfalls durch unseliges Machtstreben – dazu zählen vor allem sämtliche Kreuzzüge mit unzähligen, weil unnötigen Opfern auf beiden Seiten der Konfliktparteien – stets Erschütterungen unterworfen waren. Ohne den Einfluss beispielsweise arabischer Gelehrter, deren Kenntnisse über Mathematik, Physik und Musik nach Europa gelangten,  sind Instrumente, wie das Psalterium, die Laute und die Gitarre nicht denkbar. Gleiches gilt – so ist zu vermuten – für die vom Benediktinermönch, Guido von Arezzo, im Hochmittelalter begründete Neumen- oder frühe Notenschrift, die als unmittelbarer Vorläufer unserer gegenwärtigen Notation zu sehen ist. Eine universalgelehrte Äbtissin, wie etwa Hildegard von Bingen, bezog ihr Wissen über Heilkunde sowie der medizinischen Anwendbarkeit von Kräutern und Pflanzen allgemein durchaus nicht ausschließlich von antiken Theoretikern, deren Traktate sie kannte, sondern vielmehr werden in diesem Rahmen – wenn auch nicht in erster Linie offensichtlich – historisch gesicherte Verbindungen zu Gelehrten der persischen Heilkunde deutlich. Der Mensch ist in dieser Zeit in seiner Lebensauffassung ein Wanderer auf dem Weg durch sein irdisches Leben, und er benötigt Wegmarken, zu denen vor allem repräsentative Gebäude zählen. So kommt es, dass nach einer Epoche des einstimmigen bzw. monodischen gregorianischen Choralgesangs, der überdies auf eher vor allem profane bis hin zu sakralen Vorläufern aus dem östlichen Mittelmeerraum, etwa im Judentum oder im ausgehenden ehemaligen römischen antiken Weltreich zurückzuführen ist. Was Christen also heute oftmals für ein allzu selbstverständliches musikalisches Kulturgut halten, erscheint in diesem Licht betrachtet, als ein sozial und religiös determiniertes Produkt des kulturellen Austausches, das vor allem der Kommunikation, und hier speziell der Verkündigung des christlichen Glaubens im gesamten Europa dient. Latein als umfassende Sprache der Kirche und damit verbunden eine entsprechende musikalische Aufführungspraxis sorgen dafür, dass vor allem die Stadt Rom sich zu einem vorherrschenden Zentrum von Musikkultur entwickeln kann. Neben Rom allerdings gewinnt die aufstrebende Metropole an der Seine im Frankreich des Mittelalters, dort vor allem mit ihrer historischen Keimzelle, der Ile de la Cité, der Pariser Seine-Insel schlechthin, zunehmend an Bedeutung. Und der im Jahre 1163 n. Chr. begonnene Bau der Bischofskirche, Notre Dame de Paris, einer Maria der Mutter Jesu als Patronin gewidmeten Kathedralkirche, trägt entscheidend zur Bedeutung einer quasi posthum als „Ars Antiqua“ in die Musikgeschichtsschreibung eingegangen Zuschreibung bei. Musik erscheint dabei als Wissenschaft, als eine von sieben sogenannten freien Künsten, die als „septem artes liberales“ die akademische Ausbildung die Weltanschauung jener Zeit des ausgehenden Hoch- und beginnenden Spätmittelalters prägen werden. Ein musikausübender Mensch wurde dabei als Handwerker par excellence gesehen, der mit seinen vielfältigen handwerklich sowie künstlerischen Fähig- und Fertigkeiten auf vielerlei Weise und Instrumenten betraut wurde. So nimmt es nicht Wunder, dass angesichts der aufstrebenden Metropole Paris mit seiner in jener Zeit neuen Kathedralkirche eine Zeit musikalischer Innovation gewissermaßen eingeläutet wird.

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Es entwickeln sich im Zuge dessen quasi parallel zum Bau jener Kirche nicht nur weitere Formen der Gotik, sondern in musikalischer Hinsicht zugleich Formen früher Mehrstimmigkeit und damit ein entscheidender Paradigmenwechsel für die zunächst kirchenmusikalische Praxis, aber ebenso darüber ins profane musikalische Leben hinaus. Leonin und Perotin, die historischen Vertreter der nach ihnen benannten „Notre-Dame-Epoche“ schufen in ihrer Wirkungszeit für die akustischen Gegebenheiten innovative Werke, die es ermöglichten, dass sowohl Instrumente – vor allem die Orgel als harmonisches Begleitinstrument – im Einklang mit mehreren menschlichen Gesangsstimmen eine Ahnung von der „harmonia mundi universalis“ realisieren konnten. Dieser zuvor zitierte Begriff aus dem Traktat „Ars Nova“ von Philippe de Vitry bezieht sich auf die Theorie von Klängen und daraus resultierenden Harmonien, also zueinander passend wirkenden Zusammenklängen, welche ein komplexes zusammenhängendes Ganzes ergeben. Dabei beinhaltet der Abstand von zwei Tönen in den beiden Unterstimmen, die den Bässen zuzuordnen sind, exakt denjenigen einer Quinte. So hat es der griechische antike Universalgelehrte Pythagoras bereits Jahrhunderte vor Philippe de Vitry errechnet und auf diese Weise wurden Pythagoras jene Kenntnisse und Erfahrungswerte bereits vermutlich von Gelehrten aus dem arabischen sowie persischen Raum überliefert. Diese nunmehr neue musikalische Form eines danach benannten Organums beruhte auf dem ostinatohaften Klang zweier Quint- und mitunter auch dazu komplementär ergänzten Quartabständen, die wiederum konsonante, also für den Hörer gewissermaßen als akustische Signale und Symbole zu deutende Glaubensverkündigung, sozusagen religiöse und symbolische Kommunikation im besten Sinne, spür- und erlebbar machten. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, dass es sich hierbei keineswegs um musikalische Propagandamedien handelt, sondern vielmehr um ein musikkulturelles Konglomerat des christlichen Glaubens, der sich an eben jenem Ort in der Kirche Notre Dame de Paris auf diese Weise und in eben dieser Form manifestiert. Dies gilt nicht zuletzt auch mit einer –  rückblickend betrachtet – gesamteuropäischen Auswirkung, denn die Praxis des polyphonen europäischen Chorgesangs ist ohne die Musik der Notre-Dame-Epoche nicht denkbar und wäre daher vermutlich völlig anders verlaufen. Somit kommt es also in der Zeit der Erbauung von Notre Dame de Paris ab dem Jahr 1163 n. Chr. bis in das Jahr 1345 n. Chr. neben der klaren Textverständlichkeit auch zu einer deutlichen klanglichen Ausformung und einem auf einer klaren harmonischen Basis beruhenden Formprinzip von mehrstimmiger Komposition und einer damit verbundenen Interpretation dieser primär als Kirchenmusik anzusehenden Form, bei der allerdings Rückgriffe auf vermeintlich seinerzeit populäre Musikstile offenkundig erscheinen. So wird der Quint-Klang auch als Bordun bezeichnet, einer musikalischen Praxis, die im keltischen Raum Nordwestmittel- und Westeuropas, ebenso wie gleichsam im gesamten Mittelmeerraum – wie wir heute durch musikarchäologische Studien wissen – eine erhebliche Verbreitung mit entsprechender Beliebtheit gefunden hatte. Vollkommen unstrittig ist dabei die Erkenntnis, dass sowohl die jüdische, als auch die christliche, und nicht zuletzt auch die islamische Musikkultur hier von gemeinsamen historischen Quellen gespeist zu sein scheinen, die vor allem – wie eingangs erwähnt – auf die aus antiker Zeit intensiven Handels- und Austauschbeziehungen zurückzuführen sind. Was diese Erkenntnis für den gegenwärtigen Umgang im heutigen Miteinander dieser Kulturen bedeuten könnte, soll Teil meiner Gedanken des nachfolgenden kurzen Ausblicks – unter Einbeziehung der Tagesaktualität – sein. Dass die in der Überschrift thematisierte musikalische Zeitenwende sich in diesem Zusammenhang auf wesentliche Teile der europäischen Musik- und Kulturgeschichte bezieht, dürfte mindestens ebenfalls unstrittig erscheinen und als solches Faktum festgehalten sein.

Von der Ars Antiqua zur Ars Nova – und heute als „branding news“: Notre Dame brennt…

Vorab sei gesagt: Mein Beitrag soll kein politisches Statement – schon gar kein Populistisches –  darstellen, denn vielmehr ein kulturhistorisches Essay sein, das einerseits musik- und kulturgeschichtliche Beziehungen argumentativ darlegt, um darüber hinaus Impulse für einen angemessenen und zeitgemäßen Umgang mit Katastrophen kulturhistorischen Ausmaßes setzen zu können. Die weltweit omnipräsenten Videos der brennenden Pariser Kathedrale Notre Dame rufen vor allem eines in mir hervor: Da ist auf der einen Seite die allgegenwärtige Verletzlichkeit eines primär religiösen sowie kulturellen Symbols mit nationaler und bisweilen kontinentaler, mitunter auch globaler Wirkmächtigkeit. Auf der anderen Seite hingegen frage ich mich aber auch, angesichts vielerlei weltweiter und auch in unserer gegenwärtigen Zeit kontinuierlich geschehenden globalen Zerstörungswut gegen jegliches humanes und kulturelles Gut seitens unaufgeklärter, weil stur nach absoluter Allmächtigkeit strebender, gleichsam im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig erscheinender (Macht-)Menschen, inwieweit wir ein Bewusstsein kultureller Prägung besser und intensiver an heranwachsende Generationen wohl vermitteln müssen und dies vor allem auch zu wollen. So stellen sich mir Fragen: Sind wir gewillt, überhaupt jahrhundertealtes tradiertes Wissen stets neu zu hinterfragen, uns darüber hinaus mit neuen Erkenntnissen jeden Tag aufs Neue auseinanderzusetzen, ja, sind wir überhaupt neugierig darauf, etwas Neues, auch wenn dies zunächst absolut fremd – vielleicht sogar abschreckend – erscheinen mag, zu erfahren. Schon Johann Wolfgang von Goethe stellte dazu treffend fest – ganz im Sinne der europäischen Aufklärungstradition: Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts! Das ist es doch, was vor allem Menschen in Wissenschaft und Forschung, auch in Wirtschaft und Politik, in Religion und im Bildungswesen allgemein antreibt und zusammenführt. Ein Impuls dazu, ganz im Sinne der spätmittelalterlichen Pariser Organum-Tradition erscheint dazu passend: Die Menschen, die vor der brennenden Kirche Notre Dame in Paris am 15. April 2019 gemeinsam als verbindendes Kulturgut den Gesang, den Choralgesang, ob einstimmig, oder mehrstimmig, ob klanglich schön oder nicht, als unüberhörbar angestimmt haben, nutzen eine geradezu traditionelle sowie hoffnungsstiftende Weise von Musik, die somit als eine gemeinsame gesungene Sinfonie, als ein Ausdruck der Identitätsbildung und -stiftung deutlich wird. Und eines sei dazu gesagt: Brennen irgendwo Gebäude, ob Kirchen, Synagogen oder Moscheen oder auch nur einfache Häuser, die nicht so repräsentative Wirkung auf viele Menschen besitzen, so müsste doch eigentlich jeder Mensch sich auf damit solidarisch erklären, oder etwa nicht?! Die Menschen des späten Mittelalters lebten in einer Zeit der allgegenwärtigen Vergänglichkeit und ebenso allgegenwärtiger Katastrophen. Sollte dabei nicht das gemeinsame Singen, so wie es uns als harmonisches und wohlklingendes Ganzes durch die Musik der Notre-Dame-Epoche überliefert worden ist, uns stärker als bisher auch im kommunikativen Austausch zusammenführen? In diesem Sinne kann durchaus nicht nur im Kleinen begonnene wegweisende Kunstform entstehen, sondern auch das soziale Miteinander und den Zusammenhalt über alle Grenzen hinweg fördern. Und das wäre – abgesehen von den wirklich finsteren Zeiten des europäischen Mittelalters – doch ein erheblicher Fortschritt, oder?!

Heiko Fabig

 

 

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