Der Mensch und seine Illusionen

Seit Langem habe ich keine Zeitschrift mehr mit so einem Vergnügen von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. In begleitenden, horizonterweiternden Texten habe ich die Prägung von Begriffen auf das menschliche Denken neu erfahren – beinahe in einem meditativen Zustand, versunken in tiefe Reflexionen.

Dass sämtliche Beiträge aus der Feder ausgewiesener Akademiker und Autoren stammen, verstärkt die Wirkung der Texte spürbar. Die Rede ist von der philosophischen Zeitschrift Der blaue Reiter – Journal für Philosophie.

Mit dem Titelthema „Der Mensch und seine Illusionen“ beleuchtet das Heft sowohl die geistige Atmosphäre unserer Zeit als auch die existenziellen Widersprüche des Menschen in großer Tiefe. Es verbindet akademische Sorgfalt mit ästhetischer Sensibilität und präsentiert das Denken nicht als trockene Disziplin, sondern als gelebte Erfahrung. Philosophie bleibt hier mit dem Leben verbunden – ein wohltuender Kontrapunkt für jene, die sie aus der Lebenswelt herauslösen möchten.

Der Leitartikel mit dem Titel „Die Macht der Illusionen“ diskutiert den Begriff der Illusion in einem weiten gedanklichen Rahmen, der von Platon über Hegel bis hin zu Freud und Nietzsche reicht. Die Betonung, dass jeder Mensch in gewissem Maße Illusionen lebt, bildet den gemeinsamen Nenner der im gesamten Heft (56) versammelten Texte. Während der Leitartikel die Grundlagen unseres Selbstverständnisses hinterfragt, bedient er sich einer Sprache, die Philosophie mit Psychologie und sogar mit Literatur verbindet. Illusionen werden nicht als Irrtum, sondern als eine Form existenzieller Kreativität des Menschen verstanden. Der Ansatz, Illusionen nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen, fasst die Grundhaltung der Zeitschrift prägnant zusammen.

Der Aufsatz „Glück – eine Illusion?“ von Prof. Dr. Franz Josef Wetz nähert sich dem Glücksbegriff aus unterschiedlichen Perspektiven wie positiver Psychologie, Natur, Gesellschaft, Erwartungen und Enttäuschungen. Wetz argumentiert, dass alle Enttäuschungen letztlich aus unerfüllten Erwartungen resultieren, und gelangt zu folgender Feststellung: Menschen neigen häufig zu überzogenen Erwartungen, was nicht zuletzt daraus erwächst, dass alltägliche Annehmlichkeiten zur Gewohnheit werden. Sobald diese zur Selbstverständlichkeit geworden sind, verlieren wir das Gespür für ihren Wert. Beispiele wie stets gut gefüllte Supermarktregale zeigen eindrücklich, dass mit der Verbesserung der Lebensbedingungen die Fähigkeit zur Wertschätzung oder Dankbarkeit nicht im gleichen Maße zunimmt.

Der Politikwissenschaftler und Philosoph Dr. Maurice Schuhmann untersucht die menschliche Sinnsuche anhand des Verhältnisses von Nietzsche zur Religion. Die spannungsreiche Beziehung, die Nietzsche – als Sohn eines protestantischen Pfarrers – zeitlebens zur Religion hatte, sowie sein gedanklicher Weg hin zum Nihilismus werden in klarer und verständlicher Sprache dargestellt.

Zu den besonders eindrucksvollen Beiträgen zählt auch der Artikel „Über die Illusion der Fehlerlosigkeit der Maschine“ von Prof. Dr. Martina Heßler. Sie macht deutlich, dass technologischer Chauvinismus und die Vorstellung der perfekten Maschine nach wie vor fest im Denken verankert sind. Trotz der alltäglichen Erfahrung technikbedingter Fehler und sogar schwerer Unfälle hält sich das Bild der „unfehlbaren Maschine“ hartnäckig im menschlichen Bewusstsein.

Gerade in einer Zeit, in der sich künstliche Intelligenz rasant verbreitet, ist das Risiko, den Illusionen technologischer Systeme zu erliegen, ein hochaktuelles und kritisches Thema. Heßlers Warnung ist daher von existenzieller Bedeutung: Der Mensch müsse gewissermaßen zum „Hirten der künstlichen Intelligenz“ werden, stets mögliche Fehler mitdenken und idealerweise antizipieren. Vor allem gelte es, die Fähigkeit zu entwickeln, zu erkennen, wann die Komplexität künstlicher Intelligenz die Grenzen menschlichen Verstehens überschreitet. Immer deutlicher wird die Notwendigkeit, nicht zum von der Technik gelenkten „Schaf“ zu werden, sondern Verantwortung für sie zu übernehmen. Dafür sind jedoch erhebliche geistige Widerstandskraft und ein ausgeprägtes System kritischer Wachsamkeit unerlässlich.

Der Beitrag „Zerbrochene Illusionen und große Kränkungen“ von Prof. Michael Pauen greift die drei großen Kränkungen auf, die Sigmund Freud formuliert hat – die kopernikanische, die darwinistische und die narzisstische. Pauen zufolge besteht die eigentlich zu überwindende Illusion in der Annahme, wir selbst oder unsere Vorfahren seien Opfer eines grundlegend falschen Trugschlusses gewesen. Wissenschaftlicher Fortschritt sei nur möglich, wenn Theorien ernsthaft und ohne vorschnelle Abwertung geprüft würden.

Während Prof. Hanno Sauer der Frage nachgeht, ob moralischer Fortschritt eine Illusion sei, zeigt Prof. Jean-Pierre Wils anhand eindrucksvoller Beispiele, wie Illusionen über das Medium Hoffnung vermarktet werden. Seine Diagnose zählt zu den realistischsten der jüngeren Zeit: Hoffnung müsse sowohl Abstand zu realitätsfernem Utopismus als auch zur angstgestützten Fixierung auf den Status quo wahren, die sich als „Realismus“ ausgibt. Andernfalls sei sie zum Scheitern verurteilt.

Im Interviewteil der Zeitschrift äußert ein zeitgenössischer Philosoph den Gedanken, die dauerhafteste Illusion des Menschen bestehe darin, sich selbst als von der Welt getrennt zu betrachten. Dieser Satz bringt zugleich den Geist des Heftes auf den Punkt: Der Mensch ist ein Wesen, das zugleich Teil der Welt ist und doch versucht, ihr zu entkommen. Das Gespräch wirft zudem Fragen nach der heutigen öffentlichen Rolle der Philosophie auf: In welchem Maße produzieren wir unsere Illusionen kollektiv? Kann Philosophie diesen gemeinsamen Traum stören – oder ist sie selbst Teil davon?

Der Aufsatz „Ein Fenster zur Seele“ von Prof. Dr. Thomas Macho greift Studien auf, die zeigen, dass blinde Menschen in ihren Träumen lebhafte Bilder sehen können, und beleuchtet damit das Phänomen des „Sehens ohne Augen“. Ausgehend von der Frage, wie Sehende angesichts der Fülle an Schrecken, denen sie ausgesetzt sind, standhalten können, wird die These formuliert, dass auch Blindheit eine eigene Form von Gabe darstellen könnte.

Rüdiger Vaas widmet sich in seinem fundierten Beitrag „Ist der freie Wille eine Illusion? – Die Grenzen menschlicher Autonomie“ der Frage der Willensfreiheit. Ausgehend von der Annahme, dass im Universum entweder alles durch Kausalzusammenhänge bestimmt ist oder zusätzlich blinde Zufälle wirken, argumentiert Vaas, dass der Mensch seine Charakterzüge, Gefühle, Gedanken, Absichten und Handlungen letztlich nicht frei wählen könne.

Die kurzen Essays und Buchbesprechungen im letzten Teil des Heftes fungieren wie kleine Spiegel des zentralen Themas. Ein Gespräch über künstliche Intelligenz und Glück vertritt die These, dass der Mensch sich mit zunehmender Künstlichkeit auch vom Glück entferne. Die Antworten auf die Mikrofonfrage „Braucht der Mensch Illusionen?“ verleihen dem Heft auf zwei Seiten eine besondere Farbe. Einige von vielen Stimmen lauten etwa: „Mit Illusionen manipuliert der Mensch sich selbst.“ – „Illusionen formen den Charakter.“ – „Ohne Illusion keine Vorstellungskraft, und ohne Vorstellungskraft keine Zukunft.“

Indem ich auf etwa die Hälfte der rund zwanzig Beiträge eingegangen bin, habe ich versucht, ein Gesamtbild der Zeitschrift zu zeichnen. Die thematische Tiefe, die durch unterschiedliche Textsorten wie Aufsatz, Interview, Essay und Kritik entfaltet wird, ist bemerkenswert gelungen. Dass das Journal für Philosophie dabei eine gewisse Distanz wahrt und den Leser mit seinen eigenen Gedanken allein lässt, zählt für mich zu den Gründen, warum ich es mit so großer Freude gelesen habe. So lädt die Zeitschrift nicht nur zum Denken ein, sondern auch dazu, die Illusionen des eigenen Denkens zu erkennen.

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