Toleranz-Bildung durch Bilder

Ohne Toleranz wird eine pluralistische Gesellschaft nicht funktionieren. Da es sich hier um einen abstrakten Begriff handelt, ist es sehr schwierig, ein Bewusstsein für den Wert der Toleranz zu entwickeln. Toleranz spielt bei der Anerkennung des anderen und dem Tragen einer Mitverantwortung für Beziehungen sowie im Prozess des Austausches innerhalb der Bevölkerung eine besondere Rolle und ist für uns alle lebensnotwendig.

Andererseits hat Toleranz Grenzen. Unsere eigene Sozialisation prägt unsere Wertvorstellungen und begrenzt häufig unsere Möglichkeiten, tolerant zu sein. In jeder Gesellschaft gibt es Berührungsängste und Zurückhaltung gegenüber Fremden, deren Überwindung eine große Herausforderung darstellt, was auch eine gewisse Initiative und Mut erfordert.

Diese Herausforderung zu meistern und mutige Initiativen zu ergreifen, dazu regt ein Programm von Susanne Ulrich „Toleranz-Bilder“ an. (Übungen von Andreas Schröer und Kirsten Nazarkiewicz; Verlag Bertelsmann Stiftung). Es handelt sich um eine Fotobox mit 63 Bildern, die sich sechs Kategorien zuordnen lassen: Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Umwelt, Digitalisierung und Globalisierung. Wenn Kurt Tucholsky mit seiner prägnanten Äußerung „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ recht hat, wird klar, welche Aussagekraft und welche Möglichkeiten der Vergegenwärtigung von Problemen in diesen Bildern stecken.

Dem Konzept von Susanne Ulrich zufolge sollen die Bilder der Fotobox in ihrer Vielfalt die Lebenswirklichkeit der Schüler*innen und der Teilnehmer*innen an Maßnahmen politischer Bildung in allen Altersklassen widerspiegeln. Indem sich die Lernenden mit Aspekten der eigenen Biografie auseinandersetzen, füllen sie den abstrakten Begriff „Toleranz“ mit Sinn. Toleranz kann so zu einer Maxime des alltäglichen Handelns werden und Spielräume eröffnen für den Umgang mit einer Andersartigkeit, die zunächst nicht unbedingt als Bereicherung empfunden wird.

Weiterhin verfolgt die Autorin mit der Fotobox konkrete Ziele wie „über die Methode der biografischen Selbstreflexion Toleranz und die Grenzen der eigenen Toleranz erfahrbar zu machen, die Aufmerksamkeit für die Aussage von Bildern und ihre möglichen Wirkungen zu trainieren sowie in einen konstruktiven Austausch über verschiedene Perspektiven und Positionen zu treten.“

Die Autorin stellt die Toleranzkriterien anhand eines Schemas dar. Dabei erläutert sie sehr konkret, wie ein Konflikt während der Begegnung der diversen Kulturen zu Scheintoleranz, Toleranz und Intoleranz führen kann. Zurecht vertritt Ulrich die Meinung, dass die Demokratiekompetenz Toleranz braucht und die Kenntnis demokratischer Inhalte erfordert. „Ziel ist es, die Vielfalt von Werten und Wertverständnissen unterschiedlicher Menschen und Kulturen als gesellschaftliche Ressource zu betrachten.“

Im Begleitbuch wird auch der Einsatz der Fotobox mit vielen Übungen zu jeder Kategorie veranschaulicht: Wie die Fotos je nach Gruppengröße, Arbeitsweise, Zeit, Material, Ziele und Durchführung angewendet werden und worauf man dabei achten soll. Das Programm ist somit in theoretischer wie praktischer Hinsicht sehr gut strukturiert. Die Fotobox bietet ein hervorragend geeignetes Mittel, tolerante Haltungen gegenüber Andersdenkenden zu erfahren und zu erschließen sowie zu einer Toleranz zu gelangen, die über die reine Duldung hinausgeht.

Wie gesagt, eine grenzenlose Toleranz kann es nicht geben, so endet z.B. Toleranz immer da, wo das Rechtsempfinden berührt wird. Auch dieser Aspekt wird auch im Buch deutlich angesprochen: „Die Grenze der Toleranz ist erreicht, wenn das Aushalten eines Konflikts, der nicht miteinander und gewaltfrei geregelt werden kann, nicht mehr möglich erscheint.“

Da ich diese wertvolle Box in der Corona-Zeit bekommen habe, konnte ich sie mit Teilnehmern aus unterschiedlichen Berufen schon in Zoom-Konferenzen probieren. Es war sehr spannend, unterhaltsam, horizonterweiternd und toleranzfördernd.

Ich möchte anhand eines Beispiels veranschaulichen, wie Fotos Wertvorstellungen und Toleranzgrenzen ins Bewusstsein rufen können. Da die Teilnehmer in der Zoom-Konferenz keine Möglichkeit hatten, selbst ein Foto auszusuchen, habe ich bewusst ein Foto mit einer Moschee ausgewählt. Dann habe ich darauf hingewiesen, dass wir Situationen kennen, in denen wir uns nicht mehr tolerant verhalten wollen oder können.

Die Gruppe von 10 Teilnehmern muslimischer Herkunft hat das Bild angeschaut. Mein Anliegen war herauszufinden, wie demokratisch die Teilnehmer denken können und wo ihre Toleranzgrenze liegt. Danach waren sie aufgefordert, in 20 Minuten über das Motiv hinaus eine Geschichte zu erzählen, die deutlich macht, warum sie in dieser Situation nicht mehr tolerant sein wollen, den Sachverhalt oder die Tat so nicht akzeptieren können. Die Geschichten wurden einzeln erzählt und diskutiert. Die Aufgaben dazu waren: 1. über die Situation, 2. über die Interpretation seitens der Teilnehmenden und 3. über die Art der Toleranzgrenze zu reden. Was ist die Begründung dafür, dass hier eine Toleranzgrenze erreicht ist? Im Plenum wurden dann die verschiedenen Ansätze der Toleranzgrenze diskutiert. Ziel der Diskussion war, eine gemeinsame Definition der Grenzen von Toleranz zu erarbeiten. Auch wenn die Standpunkte nicht alle überzeugen mögen, werden die Personen immer akzeptiert.

Wir haben nach diesem Schema über die Funktion der Moschee und die Wahrnehmung aus der deutschen und türkischen Perspektive kontrovers diskutiert. Eine tolerante Haltung verdient eine Moschee-Gemeinde, solange sie sich dort mit ihren religiösen und sozialen Angelegenheiten beschäftigen. Aber die Toleranzgrenze ist erreicht, wenn sie die Religion zu politischen und anderen Zwecken missbrauchen sowie in der muslimischen Community Unruhe stiften, indem sie die Andersdenkende denunzieren oder Feindseligkeit schüren. Dazu gehört auch die Verherrlichung der Gewalt oder das Betreiben von Antisemitismus und Blasphemie durch radikale islamische Einstellungen. Ein Teilnehmer fand die Intoleranz einiger Deutschen unbegründet, wenn sie Moscheen als Versammlungsorte radikaler Muslime sehen oder Muslimen pauschal unterstellen, gegen das Grundgesetz zu sein. So wird ein Vorurteil geschürt, das Rechtsradikale zum Anlass nehmen, Moscheen zu attackieren. Toleranz ist nur möglich, wenn alle Bürger ihre Loyalität zum Grundgesetz zeigen. Intoleranz entsteht sich durch Vorurteile und Nicht-Akzeptanz.

Der Toleranzbegriff wirft uns also zurück auf kulturell geprägte Werte, bzw. auf das, was wir als normal empfinden, weil es kulturell entstanden ist. Eine Gesellschaft kann nicht nur tolerant sein, sondern sie muss auch Grenzen setzen. Dass diese Grenzen verändert werden, ist ebenfalls normal und ein schwieriger Prozess. Er vollzieht sich z.B. auch im typischen Generationenkonflikt. Jede Generation strapaziert die vorangegangene durch andere Maßstäbe. Der Umgang mit Kulturen, die überwunden geglaubte Wertvorstellungen wieder ins Land bringen, ist nicht nur heikel, er erfordert eine Grenzziehung, die nichts mit Intoleranz zu tun hat. Sonst geht die eigene kulturelle Identität verloren, und das würde gravierende gesellschaftliche Konflikte nach sich ziehen.

Um all diese Konflikte mit gesundem Menschenverstand bewältigen zu können oder gar nicht erst entstehen zu lassen, brauchen wir eine Toleranz-Bildung. Das Konzept von Susanne Ulrich mit den „Toleranz-Bildern“ bietet dazu einen hervorragenden Ansatzpunkt.

Muhammet Mertek

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