Musikkonsum von türkischen Jugendlichen

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Ich weiß nicht, ob man sich ein Leben ohne Musik, Literatur und Kunst vorstellen kann. Bestimmt gibt es Menschen, denen dies ohne Weiteres möglich erscheint. Laut einer Studie hören 97,3 Prozent aller Jugendlichen mindestens wöchentlich Musik. Nur 0,5 Prozent der Befragten geben an, nie Musik zu hören.1 Aber wie leben diese Menschen? Darüber lässt sich trefflich spekulieren. Unstrittig ist aber, dass diese Bereiche eine wichtige Rolle bei der Identitätsfindung spielen und in persönlicher und gesellschaftlicher Hinsicht als ein höchstes Gut im besten Sinne zu bezeichnen sind. „Kunst ist eine existenzielle Säule der Demokratie! Die Kultur eines Landes hat stark mit der eigenen Identität eines Volkes zu tun. Diese kulturellen Wurzeln zu negieren, indem ich sie nicht fördere, das finde ich ganz schlimm für ein Land“2, sagt der deutsche Opernsänger Thomas Quasthoff. Er kritisiert dabei heftig, dass Musik und Musikausbildung von Politikern in ihrer kulturbildenden Funktion nicht gesehen werden und ihre Förderung deshalb allzu oft sträflich vernachlässigt wird. Auch in schulischen Institutionen bildet die musische Bildung oft das Schlusslicht. Und in vielen Elternhäusern spielt die geistige Auseinandersetzung mit den Kindern und die musikalische Förderung oft ebenso wenig eine Rolle. Thomas Quasthoffs kritischen Worten zufolge fördert die Musik insgesamt ein empathisches Sozialverhalten, den Zugang zur eigenen Emotionalität, und prägt in nachhaltiger Weise kulturelle Wurzeln sowie die eigene Identität: „Das Leben mit und in der Kunst schließt das Wissen der eigenen, aber auch der fremden Kulturen ein. Dieses Wissen nimmt die Angst vor dem Fremden. Gleichzeitig schafft das Erkennen des Wertes einer Kultur eine gewisse Stärke.“3 In diesem Sinne wird Musik im öffentlichen Diskurs eine verbindende Wirkung zugeschrieben: „Musik ist besonders geeignet, um integrativ und sozial zu wirken.“4 Nach dieser Definition der umfassenden gesellschaftlichen und persönlichen Bedeutung von Musik und Kunst möchte ich auf die Rolle der Musik in der türkischen und muslimischen Tradition eingehen.

Musik in der türkischen Tradition

Die Musik allgemein und Musikinstrumente haben in der türkischen Geschichte eine lange Tradition. In der sufistischen Tradition machte uns der berühmte Dichter und Philosoph, Mevlana Rumi5, der vor sieben hundert Jahren lebte, aufmerksam, dass sich die ney (Offene Längsflöte) stets seine innere Heimat wiederzusehen wünsche, als er die hauchenden Laute der ney erörterte. In seinen Versen beschreibt er den besonderen Klang der ney so: Die Melodien, die die ney der menschlichen Seele einflüstert, führten ihn in eine andere Welt als diejenige des irdischen Daseins mit all seiner Realitätshärte – in eine Welt der Ausgewogenheit und Harmonie, die eine innere Einkehr möglich macht.

Die Schilfrohrflöte ney ist eines der ältesten Instrumente des Vorderen Orients. Sie hat besonders in der islamischen Kultur verschiedene Funktionen: als Instrument in der höfischen Musik, in der populären Unterhaltungsmusik und in sufistischen Zeremonien, wie z. B. dem semâ der mevlevi.6

Die türkische Kunstmusik – oder auch türkische klassische Musik genannt – zählt zu den Kunstmusiken der islamisch geprägten Großregionen im arabisch-persisch-türkischen Raum. Ihre Gestaltelemente basieren auf dem modalen Konzept mit seinen Techniken und dem metro-rhythmischen Prinzip. Die türkischen Bezeichnungen sind makam und usûl.

Ab dem 17. Jh. entwickelte sich eine mehr und mehr eigenständige osmanisch-türkische höfische Kunstmusik. Drei Komponisten sollen stellvertretend für viele andere stehen: Buhûrîzâde Mustafa Itrî (etwa 1640 bis 1712), Tanbûrî İsak Efendi (1745–1814) und Hamâmîzâde İsmâil Dede Efendi (1778–1846). Die Musikkunst repräsentiert den primär melodischen, reich ornamentierten Gesangsstil des Vorderen Orients sowie die Kunst der Improvisation. Dafür steht zudem eine sehr reiche instrumentale Auswahl mit vielfältigen Klangmöglichkeiten zur Verfügung: kanûn (Trapezförmige Kastenzither), tanbûr (Langhalslaute), ûd (Kurzhalslaute) sowie die ney, um einige der Instrumente zu nennen7.

Bis heute ist die türkische Kunstmusik – nach einer kurzen Unterbrechung in den ersten Jahren der türkischen Republik – in verschiedensten Ausprägungen verbreitet, die von Auffassungen einer historisierenden Aufführungspraxis bis hin zu denen einer primär auf Unterhaltung fokussierten Musik reichen können.

Zu einem weiteren großen Bereich der vorwiegend mündlich weitergegebenen Musiktraditionen zählt die traditionelle türkische Volks- und Volkstanzmusik; sie lässt noch heute die sehr verschiedenen Wurzeln der in der Türkei lebenden ethnischen Gruppen erkennen. Dieser Bereich ist besonders durch verschiedenste Regionalstile mit ihrem jeweils speziellen Instrumentarium gekennzeichnet. Dazu zählen auch ca. 4000 verschiedene Volkstänze. Zudem lässt sich nachverfolgen, dass die Tradition der Volks- und Heldenliedersänger aus Zentralasien nach Anatolien überliefert wurde. Diese begleiten sich meist mit einer Laute aus der Familie der Instrumente der saz-Langhalslauten.

Wenn es um die traditionelle Volksmusik geht, sollte man hier unbedingt die türkisch-alevitische Musikerfahrung bzw. Musikkultur berücksichtigen. Die Volksmusik spielt in der alevitischen Kultur eine wesentliche – bisweilen liturgische – Rolle, sie wird nämlich wie ein Gebet wahrgenommen. Doch die Musik ist ein untrennbarer Teil der alevitischen Gebetszeremonie „semah“. Nach meinen langjährigen Beobachtungen in meinem Unterricht werden viele Schülerinnen und Schüler, welche die alevitischen Vereine besuchen, mit dieser Form der Volksmusik vertraut gemacht. Oft werden dort auch saz-Kurse angeboten, sodass es ihnen ermöglicht wird, künftig ein Saiteninstrument spielen zu können.

Das 20. Jahrhundert bringt, nach einer in vorigen Jahrhunderten begonnenen Öffnung zur „westlichen“ Welt hin, weitere Ausweitungen, wie die Entstehung einer zeitgenössischen türkischen Kunstmusik.  Diese versucht teilweise, Elemente türkischer Volks- und Kunstmusik mit einem europäisch geprägten, auf konzertanten Formen resp. Kompositionstechniken basierenden Musikstil zu verschmelzen, welche zu einer jüngsten Orientierung an „Neuer Musik“ in der Gegenwart geführt haben. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass ab den 1930er Jahren die Entstehung einer speziellen Musikerausbildung und Schulmusik einsetzte, an deren Entwicklung auch Komponisten und Musikerzieher aus Deutschland beteiligt waren. Ab den 1950er Jahren entwickelt sich in der Türkei eine Unterhaltungsmusik, die Elemente traditioneller türkischer Volksmusik mit denen der Schlagermusik des globalen Mainstreams verbindet; sie ist reichhaltig an verschiedensten Stilen und Genres, sehr beliebt und medial äußerst verbreitet. Insbesondere dieser Aspekt leitet auch mein berufliches Handeln in der pädagogischen Arbeit mit meinen Schülerinnen und Schülern (SuS), worauf ich in den folgenden Ausführungen eingehen möchte.

 Umgang der türkischen Jugendlichen mit Musik

Nun werde ich auf den gegenwärtigen schulischen Alltag zu sprechen kommen. So lässt sich hinsichtlich meines Fachunterrichts eindeutig nachvollziehen, dass die Vermittlung der äußerst reichhaltigen kulturellen Vielfalt türkischer Kultur- und Musikgeschichte neben dem sprachbildenden Aspekt einen zusätzlichen Schwerpunkt bildet. Vor kurzem habe ich deshalb 25 Schülerinnen und Schüler türkischer Herkunft nach ihren für sie wichtigen Interessen und Bedürfnissen im Hinblick auf ihre jeweilige Persönlichkeitsentwicklung gefragt. In beiden Bereichen hatten 12 SuS u.a. persönliche Interessenschwerpunkte im sportlichen Bereich, wie etwa Fußball und Schwimmen, angegeben. Lediglich drei von 25 Schülern beantworteten meine Frage mit dem Interessenschwerpunkt Musik. Das heißt aber keineswegs, dass die übrigen Schülerinnen und Schüler tatsächlich keinerlei Musik hören. Aber Viele gehen damit offensichtlich einfach nicht bewusst um, reflektieren also nicht wirklich, ob und in welcher Form Musik in ihrem persönlichen Lebensalltag eine Bedeutung haben könnte. Bei meinem WP-Türkisch-Kurs in der 10. Klasse habe ich das Thema „Türkische Dichter und ihre Dichtung“ behandelt. Fast keiner war im Kurs, der ein türkisches Gedicht auswendig konnte. Nur zwei konnten die erste Strophe der türkischen Nationalhymne als Gedicht vortragen. Noch signifikanter war es, als wir uns mit den Inhalten der ausgewählten klassischen Gedichte befassten. Viele Schülerinnen und Schüler waren nicht in der Lage, ohne meine immense Lernmotivationshilfe abstraktem oder symbolischem Denken zu folgen. Obwohl sie ihnen fast alle Wörter im Gedicht bekannt waren, konnten sie den Inhalt jedoch nicht in sinnvoller Weise wiedergeben, weil sie alles wortwörtlich wahrgenommen haben und daher den eigentlichen, metaphorischen Sinn nicht erfassen konnten. Tatsächlich fehlte jedoch ihnen genau jenes abstrakte oder symbolische Denken, welches mit Lyrik und Musik gefördert werden sollte. Was Johann Wolfgang von Goethe vor 200 Jahren so schön formuliert hat, gilt gegenwärtig für unsere Jugendlichen anscheinend als Luxus: „Man soll alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.”8 Goethe fasst es sehr prägnant zusammen, woran wir vor dem Hintergrund unserer Arbeit als Lehrkräfte sozusagen im Rahmen eines umfassenden Bildungsauftrages gemeinsam arbeiten müssen. Dies glaube ich aufgrund meiner mitunter recht deprimierenden Beobachtungen aus der aktuellen Bildungspraxis meines Schulalltages nunmehr folgern zu müssen. Nur durch ein bloßes Hören oder besser gesagt durch einen unbewussten Konsum von Musik im globalen Sinne wird sich keine reflektierte und ebenso wenig eine offene Zugangsweise zur Musik und damit letztlich auch zur sprachlichen Bildung entwickeln können. Als augenfällig erweist sich somit ein aktueller Trend unter Jugendlichen, der sich durch einen immensen, scheinbar unbegrenzten Konsum auszeichnet. So beobachte ich immer wieder, dass ein scheinbar von ablehnender Haltung bestimmtes Denken der mir anvertrauten Schülerinnen und Schüler gegenüber globaler Kulturgeschichte – damit verbunden ebenso die Musik in all ihren Formen und Ausprägungen – ein wesentliches Hindernis für eine altersgemäße Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung darstellen kann. Darunter leidet nicht nur die Vermittlung musikalischer Praxis an nachfolgende Generationen, sondern, wie bereits angedeutet, die kulturelle Vielfalt insgesamt. Demgegenüber konnte ich im Zuge meiner persönlichen Reisen in den vergangenen Jahren beobachten, dass überall das verbindende Element zwischen Jugendlichen ein ihr im Wesentlichen einheitlicher Musikgeschmack darstellt. Hierzu könnten weitere Studien zu meinen bisherigen Erfahrungen in den Straßen von Paris, an einer Schule in Addis Abeba, in einem Vergnügungszentrum in Astana, im Berliner Bezirk Kreuzberg oder in den Randbezirken von Istanbul gesicherte Erkenntnisse erbringen.

Solange dieser Geschmack nicht mit extremistischen Aussagen sowie Botschaften jedwelcher Art verbunden wird, und demzufolge einen entsprechenden Charakter besitzt, stellt dies keine besondere Problematik bezüglich der Identitätsbildung von jungen Menschen dar. Sicher ist, dass auch die Identitätskonflikte egal welcher Art durch den Musikkonsum in gewissem Maße kompensiert und ausgeräumt werden. Weiterhin wirkt in diesem Kontext der Musikkonsum als eine Modeerscheinung. Was die Schülerinnen und Schüler türkischer bzw. muslimischer Herkunft als Musik hören, ist weitgehend die Protestmusik Rap, und zwar diejenigen Formen deutsch-türkischer Prägung. Das passt auch zu ihrem alltäglichen Sprachgebrauch und der Wahrnehmung der einheimischen Gesellschaft, die sie – um auf ihre Aussagen Bezug zu nehmen – angeblich diskriminieren soll. Sie versuchen sich mittels dieser Inhalte und der damit verbundenen Formprinzipien dieser Musikart gewissermaßen gegen diese Diskriminierung zu wehren. Dazu gehört auch in letzter Zeit die K-Pop, die ebenso beliebt ist. Letztendlich ist für uns Pädagogen somit eine Aufgabe bedeutsam, dass wir Musik als eine Form eines universellen Kommunikationsmittels betrachten, um die Jugendlichen im Hinblick auf ihre Persönlichkeitsentwicklung zu sensibilisieren. Denn Musiker unterschiedlicher sprachlicher und religiöser sowie kultureller Herkunft sind demnach in der Lage, gemeinsam mit ihrem Medium – der Musik – eine für jeden Menschen verständliche Dialogebene im kommunikativen Miteinander zu schaffen. Dies geschieht vor allem in Form musikalischen Austausches und der Fähigkeit zu musikalischer Begegnung. Der Gründer des „Pera Ensemble“ Mehmet Yesilcay hebt hierfür einen ganz anderen Aspekt hervor: „Musik schafft aber auch eine Basis für einen Dialog, ohne miteinander sprachlich zu kommunizieren. Ich habe in meiner langjährigen Laufbahn mehrmals erlebt, dass Musik Menschen einander näherbringt, die sonst nie miteinander reden würden, sogar verfeindet sind.“9 Themen wie musikalische Sozialisation, Musikerziehung, Musikkonsum, Akkulturation und innere Identität sind in Zeiten einer vermeintlich übermächtig wirkenden technokratisch geprägten Digitalisierung des Lebens und der medienwirksam inszenierten sowie institutionell konstruierten Konfrontation der Kulturen wichtiger denn je. So können wir nunmehr demgegenüber als gewissermaßen einzige Chance diesen gesellschaftlichen Disparitäten entgegenwirkend mit all unseren humanistisch geprägten Kräften die Literatur sowie die Kunst und die Musik als komplementär bzw. sich ergänzende Komponenten eines friedlichen Miteinanders aller Menschen in den Vordergrund stellen.

Muhammet Mertek

Fußnoten
1 Bertelsmann-Stiftung – Musikalische Bildung. <https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Musikalische_Bildung/MuBi_Studie_Jugend-und-Musik_final_2017.pdf> (aufgerufen am 25. August 2019)
2 Cicero. <https://www.cicero.de/kultur/musik-ist-eine-säule-der-demokratie/37199>(aufgerufen am 25. August 2019)
3 Ebenda.
4 Bertelsmann-Stiftung – Musikalische Bildung. <https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Musikalische_Bildung/MuBi_Studie_Jugend-und-Musik_final_2017.pdf>(aufgerufen am 25. August 2019)
5 Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī – auch Mevlana Rumi genannt –  wurde 1207 in Balch (heute in Afghanistan) geboren. Aufgrund des Mongolensturms flohen seine Eltern mit ihm nach Konya, Anatolien (heute in der Türkei), wo er 1273 gestorben ist. Sein poetisches Werk Masnawi wurde in viele Sprachen übersetzt, darunter ins Türkische und Deutsche. Nach ihm ist der Mevlevi-Derwisch-Orden, auch bekannt als „Tanzende Derwische“, benannt.
6 Vgl. zur ney, Walter Feldman 1996: 119; zu semâ und mevlevi, Kurt und Ursula Reinhard 1984 I: 176–179.
7 Vgl. Kurt Reinhard 1973; Ralf Martin Jäger 1996.
8 von Goethe, Johann Wolfgang. 2007. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Berlin: Suhrkamp Verlag
9 Sinfonie-interkulturell. <https://www.sinfonie-interkulturell.de/musik-schafft-einen-dialog-ohne-miteinander-sprachlich-zu-kommunizieren/>
(aufgerufen am 09. September 2019)

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